Tschernobyl

Am 26.4.1986 ereignete sich in einem der vier russischen Druckröhrenreaktoren (Kernkraftwerk) in Tschernobyl der bislang größte Unfall in einem Kernkraftwerk.

Es handelte sich um den ersten Super-GAU in der Geschichte der Kernenergienutzung (GAU). In Harrisburg war es 1979 fast zum Super-GAU gekommen. Der Super-GAU von Tschernobyl wird sich wahrscheinlich als der bislang folgenschwerste Unfall des Industriezeitalters erweisen.

Unfallablauf: Bei Wartungsarbeiten kam es nach einem Kühlwasserstau zur Überhitzung von Brennelementen, wodurch sich Wasserstoff bildete, der zusammen mit Sauerstoff aus der Luft in einer gewaltigen Knallgasexplosion das Reaktorgebäude wegsprengte. Die Brennelemente schmolzen zu einer über 2.000 Grad C heißen Kernschmelze zusammen. Schließlich fing der als Moderator (Kernreaktor) verwandte Graphitmantel (Kohlenstoff) Feuer, und ein regelrechter Feuersturm sog die radioaktiven Spaltprodukte (Kernspaltung), die aus der Kernschmelze austraten, in die Atmosphäre. Durch diesen Unfallablauf bedingt, verteilten sich die Spaltprodukte großräumig.

Zwei Wochen nach Unfallbeginn war der havarierte Reaktor so weit unter Kontrolle gebracht worden, daß weitere Explosionen bzw. ein Durchschmelzen des heißen Kerns in den Erdboden auszuschließen waren; der Reaktor wurde in einen Sarkophag eingeschlossen. Nach dem sowjetischen Unfallbericht wurden in Tschernobyl nur ca. 3% des hochradioaktiven Inventars freigesetzt (ohne Edelgase ca. 37 Mrd Becquerel), womit der Super-GAU von Tschernobyl allenfalls als mittlerer Unfall angesehen werden muß.
Radioaktive Belastungen in der ehem. UdSSR: Im Umkreis von etwa 250 km um Tschernobyl wurden akute Strahlenschäden beobachtet, über 120.000 Menschen mußten evakuiert werden. In den ersten Monaten nach dem Unfall starben über 30 Menschen an akuten Strahlenschäden. Etwa 1 Mio junge, oft zwangsrekrutierte Soldaten und Arbeiter haben sich bei den Entseuchungs- und Aufräumarbeiten am Sarkophag und in der 30-km-Sperrzone, die sich bis 1987 hinzogen, hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt, 150.000 von ihnen besonders hohe Strahlendosen.

Ihre Arbeit dauerte meist nur einige Tage oder Wochen, bis der angesetzte Strahlengrenzwert von 350 mSv (!) (Strahlenschutzverordnung) erreicht war. Viele von ihnen werden an Krebs sterben und genetisch geschädigte Kinder hervorbringen. Bis 1992 waren je nach Quelle bereits 6.000-10.000 von ihnen an strahlungsinduzierten Erkrankungen gestorben und etwa 15.000 weitere erkrankt.
Aber auch in der Normalbevölkerung werden die gesundheitlichen Folgen des Super-GAU sichtbar. Die ersten gehäuft mißgebildeten Ferkel und Kälber traten 1986 auf; 1987 wurden die ersten genetischen Schäden an neugeborenen Menschen sichtbar. Erhöht haben sich bei Kindern bereits die Fälle an Leukämie und Schilddrüsenkrebs, beides Krebsarten mit kurzen Latenzzeiten. Die eigentliche Krebswelle, die ihren Höhepunkt 2005 erreichen wird, hat gerade erst begonnen. Insgesamt werden in der ehem. UdSSR 200.000-1 Mio (laut W.M. Tschernosenko) zusätzliche Krebstote erwartet.

Zugenommen haben auch die sog. nicht-spezifischen strahlungsinduzierten Erkrankungen wie Magen- und Darmerkrankungen, Anämie, allgemeine Immunschwäche, Blut- und Schwangerschaftkomplikationen.
Bis zu einer Entfernung von einigen 100 km vom Unfallort findet man auch 1992 noch stark erhöhte Radioaktivität. Fast 5 Mio Menschen leben immer noch in Gebieten mit durch die
Strahlenbelastung bedingtem erhöhtem Krebsrisiko. Radioaktive Belastungen in anderen Ländern: Die radioaktiven Wolken (Radioaktivität, Fallout) breiteten sich über große Teile Europas aus, selbst in Japan wurden erhöhte Radioaktivitätswerte gemessen.

Zu den besonders betroffenen Ländern der Kategorie 1 gehörten die UdSSR, Finnland, Schweden, Polen und Rumänien. Süddeutschland und die DDR zählten zu den stark betroffenen Gebieten der Kategorie 2 und Norddeutschland zu den gering belasteten der Katagorie 3.

In ganz Europa traten Anfang Mai 1986 erhöhte radioaktive Belastungen der Luft und nach Regenfällen Belastungen von Pflanzen und Böden auf. Im Freien angebaute

Nutzpflanzen sowie Milch von freiweidenden Kühen waren teilweise so stark verseucht, daß die kontaminierten Lebensmittel beschlagnahmt und entsorgt werden mußten. Je nach Regierung wurden veschieden strenge Grenzwerte für Gemüse, Milch und Fleisch erlassen und Weideverbote verhängt. Insgesamt wurden etwa 20 verschiedene Radionuklide (Radioaktivität) im Fallout festgestellt, wobei von Iod-131, das sich in der Schilddrüse anreichert (Anreicherung), in den ersten Wochen die größte Gefahr ausging.

Ab Sommer 1987 machten Cäsium-137 und -134 die größten radioaktiven Belastungen aus. Die besonders gefährlichen Stoffe Strontium und Plutonium gelangten glücklicherweise in nur geringen Mengen in die Umwelt. Neben immensen gesundheitlichen Schäden führte der radioaktive Fallout bislang zu wirtschaftlichen Kosten in Höhe von ca. 450 Mrd DM, v.a. bei betroffenen Bauern. In Finnland und Schweden bedeutete der Fallout ein Ende für die lappländische Rentierzucht: Für einige Jahrzehnte sind dort Flechten, Hauptnahrungsmittel der Rentiere, derart verseucht, daß das Rentierfleisch für ca. 20 Jahre nicht zum Verzehr geeignet ist, Belastungen von über 10.000 Bq/kg Cäsium wurden gemessen.

Situation in Westdeutschland: Nach den ersten radioaktiven Niederschlägen traten z.T. hohe Belastungen von Freilandgemüse (insb. großblättrige Pflanzen, z.B. Spinat) auf, v.a. in Bayern und Baden-Württemberg, wo generell die radioaktiven Belastungen um etwa den Faktor 10 über dem Bundesdurchschnitt lagen. Selbst nach zwei Wochen lag die Belastung frisch geernteter Pflanzen noch bei 2.500 Bq/kg Iod und 600 Bq/kg Cäsium. Neben Freilandgemüse ging die größte Belastung in den ersten Wochen von verseuchter Milch aus, die über den Belastungspfad Gras-Kuh-Milch (Anreicherung) Iod angereichert hatte. Mitte Mai 1986 lag die durchschnittliche Kontamination der Milch in Bayern (bzw. Nordrhein-Westfalen) bei 300 Bq/l (90 Bq/l) Iod und 150 Bq/l (40 Bq/l) Cäsium.

Mit einer Verzögerung von etwa 2 Wochen stieg die Belastung für Fleisch stark an. Besonders betroffen war Wild, aber auch Rindfleisch war Mitte Mai mit 100 Bq/kg Iod und 500 Bq/kg Cäsium belastet. Lokal traten sogar Werte von einigen tausend Becquerel auf. Auch 1987 konnte man noch deutlich über dem Durchschnitt liegende radioaktive Belastungswerte messen: Insb. Wild, Binnenseefische (einige hundert Bq/kg) und Pilze (einige tausend Bq/kg) wiesen z.T. noch hohe Cäsiumwerte auf.

Grenzwerte: In der BRD wurde für Molkereimilch ein Grenzwert für 500 Bq/l festgelegt, für Gemüse 250 Bq/kg Iod. Da 1986 noch Bundesländer eigene Grenzwerte festlegen konnten, wurden z.T. sehr viel schärfere Grenzwerte erlassen, so in Hessen: Milch 20 Bq/l und für Fleisch 200 Bq/kg Iod und 100 Bq/kg Cäsium. Über den Grenzwerten belastete Milch wurde jedoch i.d.R. nicht vernichtet, sondern mit geringer kontaminierter Milch bis unter die Grenzwerte gemischt. Europaweit wurden ab Juni 1986 die als hoch einzustufenden Grenzwerte von 370 Bq/kg bzw. Bq/l für Säuglingsnahrung und 600 Bq/kg bzw. Bq/l Cäsium für alle sonstigen Lebensmittel verabschiedet.

Eine, insb. von Frankreich anvisierte, deutliche Heraufsetzung (!) der EG-weiten Grenzwerte ist 1987 vorläufig gescheitert.
Folgen: Innerhalb von 50 Jahren wird jeder Westdeutsche infolge des Tschernobyl-Fallouts durchschnittlich 1,4 mSv (Sievert)
effektive Dosis (Strahlendosis) erhalten. Die Schilddrüse ist mit durchschnittlich 3,1 mSv das am höchsten belastete Organ (alle Werte für Erwachsene). Die Ganzkörperdosis setzt sich insb. zusammen aus Verzehr 1986 (0,15 mSv) und Bodenstrahlung 1986-2035 (1,15 mSv). Die Bodenstrahlung kommt von den in den Boden gelangten radioaktiven Substanzen. Aufgrund dieser durch Tschernobyl bedingten zusätzlichen
Strahlenbelastung von 1,4 mSv werden in Deutschland etwa 4.700-14.200 Menschen an Krebs erkranken, was einer kaum feststellbaren statistischen Erhöhung der Krebsrate von etwa 0,1% entspricht.

In verschiedenen Studien wurde in der BRD direkt nach dem Unfall eine erhöhte Mißbildungsrate bei Kälbern in Bayern und eine Zunahme von Trisomie 21 bei Menschen festgestellt.

Nachrüsten oder stillegen: In der ehem. UdSSR sind 16 Tschernobyl-Reaktoren (Typ: RBMK, 1.000 MW) in Betrieb; diese und 10 weitere Uraltreaktoren im ehem. Ostblock weisen laut Reaktorexperten größte Sicherheitsdefizite auf. Favorisiert wird - insb. von der westeuropäischen Nuklearindustrie - eine Nachrüstung der Reaktoren, obwohl dies sowohl technisch wie auch finanziell (ca. 15 Mrd DM) praktisch nicht realisierbar ist. Eine Risikominderung ist dagegen nur durch eine Stillegung zu erreichen, die sich bei gleichzeitiger Mobilisierung der ungeheuren Energieeinsparpotentiale, die in den ehemals sozialistischen Ländern wie nirgends sonst brachliegen, ohne Kraftwerkszubau realisieren ließe.

Weitere Störfälle: Im Oktober 1991 ereignete sich im Reaktor II in Tschernobyl eine Wasserstoffexplosion mit Großbrand. Da die manuelle Reaktorabschaltung gelang, blieben die radioaktiven Belastungen lokal begrenzt. Im März 1992 kam es zu einem schweren Störfall mit Austritt von Radioaktivität im Reaktor bei St.Petersburg (Block II).

1992 wurde beschlossen, den zerstörten Tschernobyl-Reaktor mit einem zweiten Sarkophag zu umgeben, da der alte nicht mehr dicht sei. Der zerstörte Reaktor muß einige zehntausend Jahre gegen das Austreten weiterer Radioaktivität abgedichtet werden.

 

Autor: KATALYSE Institut

Veröffentlicht in Radioaktivität, T, T - Z.